Viel mehr als Kautschuk – 5 Irrtümer über den Fahrradreifen
Der Reifen ist für die meisten von uns ein banales Fahrradteil. Im Alltag verschwenden wir darauf keinen Gedanken; wir haben meistens eher ein Auge auf die Bremsen oder die Schaltung als auf den schnöden Gummi unter uns. Und keine Ahnung davon, wie viel Entwicklung und Aufwand in einem guten Reifen steckt. Wenn er mal streikt, sprich: platt ist, kommen uns schon eher Gedanken über seine Funktion und was dafür nötig ist …
1. Gummi ist nicht gleich Gummi
Dass der Pneu ein schlichtes Produkt sei, das auch ganz anders sein könnte, ist der weitverbreitete erste Irrtum.Da
spielt sich einiges unter dem sichtbaren schwarzen Gummi ab. Ein
Fahrradreifen besteht aus einer Karkasse, dem textilen Material, dass
ihm in seiner Form hält, dazu der Gummi, der darüber „gebacken“ wird,
und zwei Draht- oder Aramidfaser-Ringen, die den Reifen auf der Felge
halten. Und die uns ab und zu ärgern, wenn wir den Reifen aufziehen
wollen – weil sie so eng sitzen. Dazu kommen meist verschiedene
Pannenschutz-Einlagen unter der Lauffläche. Auch die Reifenflanke ist
manchmal mit verschiedenen Verfahren oder Einlagen gegen Durchstich
geschützt.
Der Reifengummi der Lauffläche ist – neben Kautschuk und
Schwefel – aus zig verschiedenen chemischen Zusätzen hergestellt. Die
genaue Rezeptur ist meist das Geheimnis des Herstellers. Schließlich
soll der Reifen alles mögliche können: haltbar sein, widerstandsfähig
gegen Umwelteinflüsse und UV-Strahlung, er soll bei Nässe wie
Trockenheit gut auf dem Asphalt haften, andererseits aber auch leicht
rollen. Und preislich erschwinglich soll er auch noch sein. Gar nicht so
einfach, und wer glaubt, er hat die richtige Mischung dafür gefunden,
will sie gern für sich behalten.
2. Profil-Neurose
Der nächste Irrtum betrifft das Profil: Jeder kennt „Slicks“, also
profillose Reifen, wie sie vor allem auf dem Rennrad zu finden sind. Und
wer denkt da nicht: kein Profil – sehr gefährlich! Da kann man doch gar
nicht bei Regen fahren!
Falsch: Beim Fahrradreifen entscheidet –
auf trockenem wie nassem Asphalt – einzig die Gummimischung über die
Haftung des Reifens. Der Unterschied zum Autoreifen: die Breite, damit
auch die Aufstandsfläche und daraus resultierend der Druck, mit dem er
auf die Straße gepresst wird. Beispiel: Ein Auto wiegt im etwa 1500
Kilogramm. Jeder der vier Reifen trägt also ein Gewicht von etwa 375
Kilo. Die Auflagefläche auf der Straße hat, je nach Druck, Reifenbreite
und -Größe vielleicht um die 400 Quadratzentimeter. Heißt: Hier herrscht
ein Druck von unter einem Kilogramm pro Quadratzentimeter.
Ein
Fahrrad mit Fahrer ist etwa um 100 Kilogramm schwer. Bei mittelbreiten
Reifen und Luftdruck von vier Bar gibt es eine Aufstandsfläche von
vielleicht zwei mal fünf Quadratzentimetern. Heißt: Ein satter Druck von
10 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Der Fahrradreifen kann durch den
höheren Druck also viel mehr Wasser verdrängen als der Autoreifen. Hinzu
kommt die höhere Geschwindigkeit des Autos. Deshalb braucht ein
Autoreifen das Profil: Es nimmt das Wasser auf, das der Reifen nicht
schnell genug verdrängen kann. Der Fahrradreifen hingegen braucht das
nicht.
Solange die Straße einigermaßen matschfrei ist, ist man also
mit dem normalen Pneu gut beraten. Aquaplaning gäbe es mit dem Fahrrad
erst bei Geschwindigkeiten um 200 Kilometer – nichts, was man einplanen
muss …
Und das Profil am City-Bike-Pneu? Sorgt für die passende
Optik! Erst wenn die Straßen richtig schmutzig sind, hilft Profil, mehr
Halt zu geben.
3. Breit heißt nicht behäbig
Der dritte Irrtum: Breite Reifen rollen schwerer. Wer ein
Allround-Reiserad mit fünf Zentimeter breiten Marathon-Reifen ausrüstet,
muss nicht unbedingt mit mehr Kraft in die Pedale treten als jemand,
der einen 28-Millimeter-Reifen fährt. Das liegt daran, dass bei breiten
Reifen die Aufstandsfläche quer zur Fahrtrichtung liegt, also kürzer ist
als bei schmalen Reifen. Sie macht zwar den Breitreifen weniger agil,
was sich beim Lenken bemerkbar macht. Aber der Rollwiderstand ist durch
die kurze Aufstandsfläche kleiner als beim schmalen Pneu. Allerdings
werden Breitreifen mit weniger Luftdruck gefahren als schmale – das
sorgt für höheren Komfort. Dadurch wird ein Teil dieses Vorteils wieder
zunichte gemacht.
Achtung: Grundsätzlich sind breite Reifen
natürlich schwerer als schmale derselben Felgengröße. Das bedeutet, dass
man beim Ampelstart oder Zwischensprint mehr Kraft benötigt als mit
schmalen – und übrigens auch beim Bremsen …
4. Schlauchlos glücklich!
Irrtum Nummer vier: Ein Reifen braucht einen Schlauch!
Autoreifen
kommen ohne Schlauch aus: Sie halten die Luft durch den Anpressdruck am
Felgenhorn. Autofelgen sind luftdicht. Fahrradfelgen, die abgedichtete
Speichenlöcher haben, können das aber auch: Das System heißt tubeless –
schlauchlos. Bei Mountainbikes hat es sich schon fast übergreifend
durchgesetzt. Kein Wunder: bei den Geländefahrern kommt der Vorteil
hinzu, dass Tubeless-Reifen mit weniger Luft fahrbar sind. Reifen mit
Schlauch bekommen schnell einen „Snakebite“, zwei Löcher beim
Durchschlagen der Felge, wenn man über ein abruptes Hindernis fährt. Das
kann beim Schlauchlosreifen nicht passieren. Allerdings gibt’s auch
Nachteile: Natürlich braucht man spezielle Felgen, Felgenbänder und
Ventile. Beim Montieren wird Dichtmilch in den Reifen gespritzt, die die
Flanken abdichtet. Man benötigt eine Luftpumpe mit Reservoir oder eine
CO2-Kartusche, um mit einem Stoß viel Luft in den Reifen zu bekommen,
sodass die Reifenflanken sofort abdichten.
5. Chemie statt Luft
Irrtum Nummer fünf: Ohne Luft geht nix! Für den Luftreifen stimmt das natürlich. Doch Hersteller wie Schwalbe, Conti und Michelin arbeiten schon lange an Systemen mit styroporähnlichen Einlagen statt der “Luftröhe” im Reifen. Nachteil neben der schwierigeren Montage: Gewicht, Rollwiderstand und Dämpfungseigenschaften sind derzeit kaum mit denen von Luftreifen zu vergleichen. Schwalbe hat mit seinem Airless-System ein Konzept eingeführt, das den Eigenschaften des Luftreifens schon näher kommen soll. Da die Pannensicherheit moderner Pneus aber auch immer besser wird, ist fraglich, ob sich luftlose Systeme, auch Solid Tyres genannt, durchsetzen werden. Einfach den luftlosen Reifen aufziehen geht übrigens nicht: Die spezielle Felge ist Teil des Systems.